Vorstellung der Idee



Für eine erste Vorstellung unserer Ideen zeigen wir Ihnen hier, wie wir bei der Einführungsveranstaltung begonnen haben:


In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister

- Pädagogische Anregungen für das Projekt WUM (SINUS) - Transfer -
von Dr. Hartmut Köhler
(Vortrag zur Auftaktveranstaltung von WUM (SINUS) - Transfer am 17.11.2003 In Stuttgart)


(1)  Zur Leistung frei-geben statt Bestände fest-stellen

Wir wollen unseren Unterrichtsstil im Mathematikunterricht verändern, wollen zum Beispiel stärker auf die Schüler eingehen, sie in der Ganzheit ihrer Person ansprechen; aber das kann natürlich nicht heißen, dass wir am Ende Märchen erzählen in der Mathematikstunde  - oder vielleicht doch?
... Sie waren in die Gegend von Bagdad gekommen, als sie auf eine Gruppe heftig gestikulierender Männer trafen. Der Zauberer Beremís fragte die Streitenden nach ihrem Problem. Es waren drei Brüder, die

35 Kamele

von ihrem Vater mit der Maßgabe geerbt hatten, dass der Älteste die Hälfte, der Mittlere ein Drittel und der Jüngste ein Neuntel davon bekommen sollte. Sie fanden keinen Ausweg aus der Unteilbarkeit der Herde gemäß dieser Vorgabe:

35            1/2   1/3   1/9
    
Beremís löste das Problem, indem er das Kamel seines Begleiters  - er selbst besaß keines -  der Herde hinzufügte und den Brüdern ihren Teil zumaß:

36           18   12   4

Da jeder der Brüder mehr bekommen hatte, als ihm eigentlich zustand (zum Beispiel hatte ja der Älteste nur ein Anrecht auf 17 1/2 Kamele) waren sie nach der Verteilung der 34 Kamele zufrieden und akzeptierten, dass Beremís nach der Rückgabe des Kamels an seinen Begleiter das übrige als Lohn für seine Lösung für sich selbst behielt.

Wie war das möglich? Ganz einfach, Beremís gab:

18 statt 35/2 oder 17 1/2; er gab also 1/2 oder 9/18 zuviel.
12 statt 35/3 oder 11 2/3; er gab also 1/3 oder 6/18 zuviel.
  4 statt 35/9 oder   3 8/9; er gab also 1/9 oder 2/18 zuviel.

Warum tat er das? Vielleicht der Einfachheit halber:

1/2 für den 1/2 - Mann
1/3 für den 1/3 - Mann
1/9 für den 1/9 - Mann

Jedenfalls verteilte er fast ein ganzes Kamel, nämlich

9/18 + 6/18 + 2/18 also 17/18  

zuviel. Wie konnte er dann sogar noch ein weiteres Kamel für sich beiseite bringen?

Je länger man darüber nachdenkt, desto verzwickter wird die Geschichte. Eigentlich hat Beremís ja die ganze Herde schon dem Ältesten gegeben. Denn wenn der

9/18 - Mann 9/18 Kamele zusätzlich bekommt, bekommt er ja 18/18  
also die ganze Herde.
(frei nach [Tahan])

Und nun sind die Schüler dran: Wer hat den Zauberer durchschaut? Vielleicht noch niemand, es ging zu schnell und war verwirrend. Also nehmen wir uns ein wenig Zeit dafür. Jeder schreibt auf, wie das möglich sein konnte. Die Frage heißt: Zauberei, oder ganz einfach Mathematik? Jetzt ist jeder Schüler gefordert, zu einer eigenen Ordnung vorzustoßen, um das Problem für sich zu klären.
Das Vorkommnis wurde nicht kleinschrittig erklärt, sondern die didaktische Aufbereitung bestand darin, die Frage aufzuwerfen, mögliche Ansätze vorzubereiten aber nicht explizit anzubieten. Der Lehrer weiß natürlich sehr klar, wo hier der Hund begraben liegt  - etwa im "so wenig" des vom Vater nicht verfügten Achtzehntels, das durch die Größe der Herde zu einem "ziemlich viel" wird -  aber der Lehrer gräbt den Hund nicht aus, sondern lässt die Schüler wühlen. Und das tun sie dann erfahrungsgemäß mit großem Eifer.
Sie müssen zweierlei leisten, einmal müssen sie irgendeine Ordnung in das Chaos der Angaben bringen, die einen Weg zur Lösung erlaubt, und zum anderen müssen sie mit dem Begriff des Anteils sorgsam umgehen.

Falls die Frage des Bezugs auf die jeweilige Gesamtheit in der Klasse noch nicht ausreichend geklärt wäre, gäbe es aber auch wenig Veranlassung für den Lehrer, dies erst einmal vermöge eines von ihm sauber offerierten Systems haarklein zu erklären, sondern er könnte etwa die folgende Aufgabe voranstellen:

Als die Heidelbeeren weg waren, fragte die Mutter: "Habt Ihr alle von den Heidelbeeren gegessen?"
Klaus antwortet: "Wir haben sie uns geteilt; jeder hat ein Viertel bekommen.
Helga sagt: "Ich habe ein Viertel gegessen, Klaus ein Drittel, Anni die Hälfte und Conrad . . ."
Wie kann das sein? Was ging da vor? Was hat Helga über Conrad gesagt?
Schreibe auf, was du meinst.

Nach dieser Arbeit wäre übrigens sehr wohl eine systematische Sicherung des Erlebten, Erfahrenen, Erarbeiteten und Erkannten angebracht, aber eben nicht vorher eine systematische Erklärung, die das Selberdenken, den aktiven Aneignungsvorgang möglicherweise verhindert hätte. Möglicherweise, denn Dogmatismus ist hier nicht angebracht. Aber normalerweise fällt es den heutigen Schülern schwer, einer längeren Lehrererklärung in frontalem Unterricht mit der Aktivität zu folgen, die notwendig ist, um Lernen zu ermöglichen.

Es sei betont: Es geht darum, dass die Schüler mehr Mathematik lernen, dass sie zu wesentlichen mathematischen Einsichten und Fähigkeiten kommen. Doch dazu ist nötig, in einer ihnen angemessenen Form zu beginnen. Das sei an der folgenden Aufgabe noch einmal verdeutlicht.




Wie viele Würfel sind zum Bau dieser Körper benutzt worden? (Schreibe die Zahl in das jeweilige Kästchen.)

Beschreibe, wie du beim rechten Körper auf die Zahl der Bauklötze gekommen bist!

[Aufgabe aus der Arbeitsgruppe Dialogischer Mathematikunterricht]

 

In einer fünften Klasse schrieb ein Schüler zur rechten Figur, das Problem sei nicht lösbar, da man nicht genügend hinter die Figur schauen könnte. Zwei Schüler hatten falsche Ergebnisse. 23 Schüler hatten für ihre Lösung die Figur symmetrisch - hinten analog vorn - gesehen. Zwei von ihnen schrieben explizit, sie hätten die Figur gespiegelt und seien so zu ihrem Ergebnis gekommen. Die anderen waren offensichtlich automatisch von der Symmetrie ausgegangen. In dem Alter setzen wohl viele unserer Schüler die Welt noch als schön voraus. Sicherlich müssen wir sie in die nicht nur schöne Welt einführen, aber das sollte so geschehen, dass sie dabei gestärkt werden, auch in ihrer Möglichkeit eine eher positive Welt zu gestalten. (Merken Sie, dass ich hier auch über das Thema Gewalt spreche?) Das ist gerade durch Mathematikunterricht besonders gut möglich. Es hieße hier zum Beispiel, behutsam die Frage aufzunehmen, ob es nicht noch andere Möglichkeiten gäbe, wenn auch die gewählte sicher die schönste und naheliegendste sei. Man könnte doch mal überlegen, was da hinten, ungesehen, noch alles geschehen sein könnte. So führen wir von der angenommenen Schönheit zur möglichen Vielfalt der Welt. Vielleicht geht man dabei übrigens von den falschen Lösungen der beiden Schüler aus und nimmt sie insofern als positiven Anlass zum Weiterdenken, nimmt damit diese Schüler gleich in einen weiteren Arbeitsprozess mit hinein, statt sie mit ihrem Scheitern im Gegensatz zu anderen stehen zu lassen.

Gleichzeitig machen die Schüler damit schon frühzeitig eine ganz wesentliche mathematische Erfahrung, lernen ein zentrales Charakteristikum der Mathematik kennen, nämlich die häufige Fruchtbarkeit des Widerspruches des Denkens gegen die Anschauung (allgemein: der Vernunft gegen oberflächliche Ideologien). So zeitig kann man mit Wesentlichem beginnen und kann man echte Mathematik treiben. Das ist die beste Basis auch für einen gymnasialen Oberstufenunterricht, der dann nicht darauf angewiesen ist, den Schüler mit solchem Unsinn wie "anschaulicher Analysis" zu ködern.

Und den Schülern die Schönheitsforderung nicht madig zu machen, bedeutet, ihnen eine wesentliche Grundlage für mathematisches Arbeiten zu erhalten. Denken Sie etwa an den Ausspruch des berühmten englischen Mathematikers Hardy: "Die Strukturen, die ein Mathematiker schafft, müssen so wie die der Maler und Dichter schön sein ... Schönheit ist der erste Test: Für hässliche Mathematik gibt es keinen dauerhaften Platz auf der Welt." [Beutelspacher]

 

Uns geht es in der jetzigen Situation, in der weithin die Meinung vorherrscht, durch vermehrtes Testen könne mehr Wissen sichergestellt werden, vorrangig darum, durch eine andere Unterrichtskultur mehr echtes Lernen zu ermöglichen. Wir verschweigen aber nicht, dass das unter einem Horizont von Bildung geschieht [Köhler], unter dem wir den Schüler nicht als zu bearbeitende Rohmasse für ein gewünschtes Fertigprodukt ansehen, als Verfügungsmasse der Gesellschaft, wie es die neueste Formulierung der KMK nahelegt, wenn sie von einer "Vergeudung menschlicher Potenziale" spricht, falls die in der Schule zu erzeugenden Endprodukte nicht der gesellschaftlich-politischen Erwartung entsprechen.

 

(2)  Nicht Produktion von, sondern Auseinandersetzung mit

 

Ein Charakteristikum unserer Gesellschaft ist ihre Ausrichtung auf Produktionsprozesse. Sogar im Kultusbereich dieses Landes werden für die Einführung "neuer Steuerungsinstrumente" (NSI) alle Tätigkeiten als Herstellung von Produkten beschrieben. Die Bildung des Schülers, sein Verständnis etwa von den Möglichkeiten und Grenzen mathematischen Umganges mit der Welt, lässt sich aber nicht produzieren. Insofern müssen wir Lehrer in bewusster Abgrenzung vom technisch-zweckrationalen Paradigma unsere Welt der Produktion handeln, worauf übrigens delikaterweise auch gerade diese Welt angewiesen ist. Das wird klar, wenn das vermeintlich unumgänglich notwendige Wirtschaftswachstum mangels Kreativität der Beteiligten nicht mehr erreicht wird. Es ist eine ausreichend belegte Dialektik, dass eine enge, nur auf die "Nutzung menschlicher Potenziale" fixierte Ausbildung diese Nutzung gerade verpasst. Die von Alexander Israel Wittenberg in "Bildung und Mathematik" angesprochene Allgemeinbildung gewinnt ihre fundierende Kraft gerade aus der "Abschirmung des Jugendlichen gegen seine spätere berufliche Ausbildung" [Wittenberg].

 

Mathematikunterricht muss in Abgrenzung zu üblichem gesellschaftlichen Handeln, zum Produzieren, nach einem künstlerischen Handlungsparadigma gestaltet werden. Man hat das im Projekt WUM deutlich gesehen: Nicht das Produkt, die erarbeiteten offenen Aufgaben (ein von uns gewähltes Modul) haben uns voran gebracht, sondern die bei der Erarbeitung gewonnenen Einsichten, die hernach so auf den Unterricht abgefärbt haben, dass lebendigere Schüleraktivitäten zu einem vielseitigen, sinnvollen und tiefschürfenden mathematischen Arbeiten führten, das deutliche Spuren in der Person des Schülers hinterließ (Modul "Kumulatives Lernen"). Und wenn wir ein Modell überlegt und hergestellt haben, das zum Beispiel Bruchteile als Kreissektoren fühlen lässt an den Sandpapiersektoren, die wir unter eine Pappe geklebt haben, dann war doch das Eigentliche, dass Schüler dadurch veranlasst wurden, Fühlen, geistige Anschauung und Denken zu aktivieren, um einen tragfähigen Begriff von Brüchen zu erwerben.

 

(3)  Pädagogisierung statt Produktion didaktischer Modelle!

 

Wir nutzen zwar auch didaktische Modelle in unserer Arbeit, aber das Wesentliche ist die Entwicklung immer besserer Vorstellungen von einem lebendigen und erfolgreichen Weg jedes Schülers in die bzw. in der Mathematik. Wir wissen, dass dieser Weg anstrengend ist. Keith Devlin hat unlängst darauf hingewiesen, dass darin die Problematik des Mathematikunterrichtes besteht und nicht in einem bei einigen Schülern fehlenden Mathe-Gen [Devlin]. Der Schüler wird dabei zum Beispiel ab und zu Fehlentscheidungen treffen und sie angesichts der Wirklichkeit oder in der Auseinandersetzung mit Widersprüchen korrigieren müssen (Modul Fehlerfreundlichkeit). Zu dieser Anstrengung wird er nur bereit sein, wenn ihn etwas zieht, Druck kann da wenig ausrichten. Was aber sollte ihn besser ziehen können, als die Attraktivität der Mathematik selbst? Dazu muss ihm die Mathematik aber auch in der ganzen Frische und Unmittelbarkeit ihrer lohnenden Probleme entgegenkommen. Ich erinnere daran, dass Otto Toeplitz schon 1926 diese Forderung erhoben hat angesichts der schon damals zu beobachtenden Verkrustungen des Vorlesungsbetriebs. Toeplitz sagte: "Alle diese Gegenstände der Infinitesimalrechnung, die heute als kanonisierte Requisiten gelehrt werden, ..., und bei denen nirgends die Frage berührt wird: warum so? wie kommt man zu ihnen? alle diese Requisiten also müssen doch einmal Objekte eines spannenden Suchens, einer aufregenden Handlung gewesen sein, nämlich damals, als sie geschaffen wurden." [Toeplitz] Die genetische Methode, die Toeplitz damals für die Lehre von Mathematik forderte, im 20. Jahrhundert wieder und wieder von anderen aufgenommen und weiterentwickelt, ist letztlich das Zentrum unserer heutigen Bemühungen, wenn es uns um die Eigenaktivität des Schülers geht. Und es ist schon zweieinhalbtausend Jahre her, dass uns der Philosoph Anaximander mahnte: Das in Grenzen verfestigte fällt der Unwesentlichkeit anheim.

 

Die Verfestigungen, die etwa für die durch TIMSS und PISA fragwürdig gewordene Kalkülorientierung des Mathematikunterrichtes verantwortlich sind, resultieren zum Teil gerade aus einer gut gemeinten falschen Fürsorglichkeit der Lehrperson in Verbindung mit der gesellschaftlich verbreiteten unsinnigen Forderung, der Lehrer müsse vor allem gut erklären. Das "Ich hätte vieles verstanden, hätte man es mir nicht erklärt" des Polen Stanislaw Jerzy Lec weist uns auf eine andere Notwendigkeit hin, auf die Notwendigkeit, sich zurück zu nehmen, damit der Schüler selbst aktiv werde. Das ist nicht immer einfach. Dazu muss man Geduld haben. Vor allem muss man an den Schüler und seine Möglichkeiten glauben und nicht meinen, was man selbst nicht erzwinge, geschähe nicht. Wenn der Lehrer sich in den Stoff und seine Möglichkeiten eingearbeitet hat, wenn er  - möglichst nach eigenen neuen Annäherungen an die Problematik -  genügend attraktive Provokationen in die Klasse bringen kann, dann sollte er sich in bezug auf seine Eingriffe in die Auseinandersetzung der Schüler mit der anstehenden Sache auf Goethe besinnen: "In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister."

 

Literatur

 

Albrecht Beutelspacher: "In Mathe war ich immer schlecht ...". Braunschweig/Wiesbaden (Vieweg) 1996, S.47
Keith Devlin: Das Mathe-Gen. Stuttgart (Klett-Cotta) 2001
Hartmut Köhler: Bildung und Mathematik in der gefährdeten Welt. Buxheim (Polygon) 1993
Malba Tahan: Beremís, der Zahlenkünstler. Düsseldorf (Patmos) 2003
Otto Toeplitz: Die Entwicklung der Infinitesimalrechnung. Darmstadt (Wiss. Buchgesellschaft) 1972
Alexander Israel Wittenberg: Bildung und Mathematik. Klett (Stuttgart) 1963, S.14